Amtliche Mitteilungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin

BAuA 3/2000 S. 10

Neue Nachtarbeitsregelungen für den Pflegedienst -
Zur Umsetzung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse im Krankenhaus

Teil 1: Projektbeschreibung und Situationsdarstellung


Seit dem 1. Januar 1996 gilt das neue Arbeitszeitgesetz auch für die Mitarbeiterlinnen im Krankenhaus. Neben einer Neuregelung der täglichen Höchstarbeitszeit sowie Ruhepausen und Mindestruhezeiten werden neue Anforderungen an die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit gestellt. In § 6 Abs. ] Arbeitszeitgesetz wird darauf verwiesen, die gesicherten arbeitswissenschaftlichen. Erkenntnisse zur Nacht- und Schichtarbeit anzuwenden. Ziel ist, das mit Schichtarbeit verbundene gesundheitliche Risiko und negative Auswirkungen auf das Zusammenleben in Familie und Gesellschaft möglichst gering zu halten.

Die Berücksichtigung der arbeitswissenschaftlichen Empfehlungen bei der Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit hat der Gesetzgeber als öffentlich-rechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers ausgewiesen. Die praktische Umsetzung stellt sich jedoch, speziell im Hinblick auf eine zeitliche Neuorganisation des Nachtdienstes im Pflegedienst, der bisher in der Regel von Dauernachtwachen übernommen wird, als äußerst schwierig dar. Die Gründe sind vielfältig und gehen weit über das Argument der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinaus.

Vor diesem Hintergrund wird in dem vorliegenden Artikel beispielhaft die Entwicklung eines neuen Arbeitszeitmodells beschrieben, das sowohl den Interessen der Pflegekräfte als auch den Anforderungen der Patienten und den arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung trägt. Es wurde im Rahmen des von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin geförderten Projekts "Gestaltung der Arbeitszeit in Krankenhäusern" entwickelt und erprobt.

Das Projekt

Das Projekt "Gestaltung der Arbeitszeit in Krankenhäusern" wurde am Landesinstitut Sozialforschungsstelle Dortmund (Projektlaufzeit: August 1997 bis September 1999) durchgeführt. Ziel des Vorhabens war, neue Arbeitszeiten im Pflegedienst, speziell neue Nachtarbeitsregelungen zu entwickeln, zu erproben und zu bewerten. Der Königsweg sollte nicht gefunden werden. Vielmehr war die zentrale Frage: Wie können praktikable Lösungen aussehen, die sowohl den Präferenzen der Pflegekräfte als auch den Anforderungen der Patienten und den arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen gerecht werden?

Das Projekt wurde in Kooperation mit dem Alfred Krupp Krankenhaus in Essen durchgeführt. Dort wurden zunächst alle 65 Dauernachtwachen zu ihren Arbeitszeitwünschen sowie zu ihrer derzeitigen beruflichen und außerberuflichen Anforderungssituation befragt. Im weiteren Verlauf wurden auf vier ausgewählten Stationen neue Arbeitszeitregelungen gemeinsam mit den betroffenen Pflegekräften entwickelt. Ausgehend von der Neugestaltung des Nachtdienstes wurde auch die zeitliche Organisation des Tagdienstes in die Überlegungen einbezogen. Nach einer Erprobungsphase wurden die neuen Arbeitszeitmodelle von den betroffenen Pflegekräften bewertet. Ein Ergebnis ist: Alle Stationen haben sich für die Fortsetzung der neuen Arbeitszeitregelungen entschieden. Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse und die Praxis der heutigen Dauernachtarbeit Das Arbeitszeitgesetz verbietet nicht grundsätzlich die Dau-ernachtarbeit. Allerdings werden bestimmte Anforderungen an die Gestaltung der Nachtarbeit gestellt, denen die heutige Praxis der Dauernachtarbeit nicht entspricht. Letztere ist in der Regel gekennzeichnet durch eine hohe Anzahl aufeinanderfolgender Nachtdienste sowie überlange Dienste, die nicht selten ohne eine entsprechende Pause geleistet werden. In den insgesamt 295 Krankenhäusern, die im Rahmen der Schwerpunktaktion "Gesundheitsschutz im Gesund-heitswesen" 1996 in Nordrhein-Westfalen überprüft wurden, wurde z. B. festgestellt, dass o in vier von fünf Häusern sieben und mehr Nachtdienste in Folge die Regel sind, und o in zwei von fünf Häusern Nachtdienste von zehn Stunden und mehr auf der Tagesordnung stehen.

Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht stellt sich sowohl die Länge der Dienste, d.h. die Massierung der Arbeitszeit als auch die Anzahl der aufeinanderfolgenden Nachtdienste als problematisch dar. Dauernachtwachen haben subjektiv das Gefühl, dass sich ihr Körper ganz besonders gut an den Nachtdienst anpassen kann, wenn sie fünf, sechs, oder sieben Nachtdienste in Folge arbeiten. Ihr subjektives Gefühl steht ganz offenbar im Widerspruch zu den "objektiven" Be-lastungen durch die Arbeit in der Nacht. Ein zentrales Ergebnis arbeitswissenschaftlicher Untersu-chungen ist, dass der menschliche Organismus an einen 24-stündigen Tag-/Nachtrhythmus gebunden ist. Rund 200 physiologische Körperfunktionen basieren auf diesem Rhythmus und beeinflussen, dass wir am Tag auf "Aktivität" und in der Nacht auf "Ruhe" gestellt sind. Dieser Rhythmus pendelt sich sogar bei völliger Isolation ein. Es existiert quasi eine innere Uhr, die durch Umweltfaktoren auf den Tagesrhythmus von 24 Stunden eingestellt wird. Die zentrale Belastung der Nachtarbeit ist, dass gegen diesen Rhythmus gearbeitet werden muss. Eine Anpassung kann nur teilweise geleistet werden, auch wenn sieben, acht oder noch mehr Nachtdienste in Folge geleistet werden. Die Teilanpassung an den verkehrten Tag-/Nachtrhythmus ist weiter fortgeschritten, so dass mehr Zeit für die Rückanpassung benötigt wird. Jeder Tag, der die Nachtdienstphase unterbricht, führt zu einer Rückanpassung. Da der Tagschlaf aufgrund von Störungen wie Straßenlärm usw. bei den meisten nicht die gleiche Qualität wie der Nachtschlaf hat, kommt es zu Schlafdefiziten, die je länger die Nachtdienstphase dauert, um so größer werden. Immer wieder gibt es den Hinweis, dass es Schichtarbeiter gibt, die sich vollkommen auf den Nachtdienst umstel-len konnten. Dabei handelt es sich allerdings um einen Teil von Schichtarbeitern, die neben individuellen Faktoren eine zentrale Voraussetzung erfüllen: Sie haben ihren gesamten Lebensrhythmus an die Nachtarbeit angepasst, unabhängig davon, ob sie nachts arbeiten oder nicht. Diese Vorausset-zung dürfte bei den meisten Nachtwachen, die allein durch Kinder, Familie oder sonstige Aktivitäten, die dem gesell-schaftlichen Tages- und Wochenrhythmus folgen, nicht er-füllt sein. Deshalb empfiehlt die Mehrheit der Wissenschaft-lerinnen, die auf dem Gebiet der Nacht- und Schichtarbeit tätig sind, die Anzahl der Nachtdienste möglichst gering zu halten (maximal vier Nachtdienste in Folge), damit die Anpassung an den Nachtdienst möglichst gering bleibt und eine Rückanpassung möglichst schnell erfolgen kann. An eine Nachtdienstphase sollte sich zudem eine mindestens 24-stündige Ruhezeit anschließen. --

Abb. 1: Gründe für die heutige Nachtdiensttätigkeit (N = 45; Mehrfachnennungen möglich) Quelle: Projekt "Gestaltung der Arbeitszeit in Krankenhäusern" sfs/AKK,1999

Befürchtungen der Dauernachtwachen Die Umsetzung der Gestaltungsempfehlungen stößt bei der überwiegenden Mehrzahl der betroffenen Dauernachtwachen auf heftige Kritik und Ablehnung. Die hohe subjektive Präferenz für die Nachtarbeit drückt sich u.a. darin aus, dass von den ins-gesamt 45 Nachtwachen, die sich im Alfred Krupp Krankenhaus an der Befragung beteiligt haben, knapp vier Fünftel den Wunsch äußern, auch weiterhin ausschließlich nachts zu arbeiten, wo-bei sich nahezu alle für eine Fortsetzung ihres bisherigen Dienst-rhythmus aussprechen. Aus Sicht der Dauernachtwachen ist der Nachtdienst geeignet, individuelle Interessen zu verwirklichen. Dabei geht es nicht allein um die Kinderbetreuung, wie aus der Abb. 1 zu ersehen ist. Als Gründe für ihre heutige Nachtdiensttä-tigkeit geben die befragten Dauernachtwachen am häufigsten die regelmäßigen Dienstzeiten an (16 Nachtwachen). 14 Dau-ernachtwachen können den Nachtdienst besser mit der Betreu-ung ihrer Kinder vereinbaren; zwei haben keinen Kinderbetreu-ungsplatz gefunden. Aus finanziellen Gründen ist der Nachtdienst für 13 Befragte attraktiv. Ebenso viele verbleiben im Nachtdienst, weil er ihren Freizeitinteressen entgegen kommt und elf der Befragten heben die interessante und verantwor-tungsvolle Arbeit im Nachtdienst hervor. Vor diesem Hintergrund sprechen zum einen die zeitlichen Arrangements, die zwischen der nächtlichen Erwerbstätigkeit und den außerberuflichen Anforderungen bzw. Interessen gefunden wurden, für eine Beibehaltung der derzeitigen Arbeitszeitform. Zum anderen sind es offenbar bestimmte Rahmenbedingungen und Tätigkeitsmerkmale, die den Nachtdienst in Abgrenzung zum Tagdienst in einem positiven Licht erscheinen lassen. Darunter fallen nicht nur die besser zu planenden Arbeitszeiten sondern auch die Arbeit selbst, die als "hierarchiefreier" und mit weniger Kooperationsbeziehungen positiv erlebt wird. Vor diesem interessengeleiteten Hintergrund sind für die meisten gesundheitliche Beeinträchtigungen kein Thema. Drei Viertel der Befragten beurteilen ihr gesundheitliches Wohlbefinden als gut bzw. sehr gut. Zwar werden einzelne, für Nacht- und SchichtarbeiterInnen typische Beschwerden wie z.B. Nervosität / Reizbarkeit, Energielosigkeit und häufige Stimmungsschwankungen genannt, die einzelnen Beschwerden drücken sich jedoch nicht in einem Gefühl gesundheitlicher Beeinträchtigung aus. All dies zusammen mündet letztendlich in die bereits erwähnte Ablehnung jeglicher Veränderungen.

 

Abb2.: Beteitigungsgruppen Quelle: Projekt "Gestaltung der Arbeitszeit in Krankenhäusern" sfs/AKK,1999 Praktikable Lösungen gemeinsam mit den Mitarbeitern entwickeln

Soll eine zeitliche Neugestaltung des Nachtdienstes die Ak-zeptanz der betroffenen MitarbeiterInnen finden, so müs-sen ihre individuellen Interessen und Handlungsmöglichkeiten berücksichtigt werden. Ihre ablehnende Haltung resultiert vielfach aus der Angst heraus, mit einem neuen Arbeitszeitmodell konfrontiert zu werden, dass am "grünen Tisch" entwickelt wurde und ihre individuelle Situation un-berücksichtigt lässt. Deshalb ist es wichtig, die betroffenen Pflegekräfte direkt einzubeziehen. Im Rahmen des Projekts erfolgte dies in sogenannten Beteiligungsgruppen, die sta-tionsbezogen gebildet wurden. Sie setzten sich aus fünf bis sechs Pflegekräften aus dem Nacht- und Tagdienst sowie der Stationsleitung zusammen (Abb. 2). Mit Hilfe externer Mo-deration wurden noch einmal die Handlungsnotwendigkeiten aufgezeigt, die Interessen der Pflegekräfte konkretisiert, patientenbezogene Anforderungen formuliert und die Arbeitsabläufe analysiert. Die unterschiedlichen Anforderungen wurden dann in ein Modell gegossen. Darüber hinaus wurden in den Gruppen notwendige flankierende Maßnahmen herausgearbeitet. Dann gingen die Modelle in die Erprobungsphase. In dieser Zeit standen ggfs. notwendige Korrekturen im Mittelpunkt der Beteiligungsgruppenarbeit und am Ende musste eine Entscheidung getroffen werden, ob die entwickelten Regelungen weitergeführt werden sollen. Die Pflegekräfte waren also über die gesamte Zeit - von der Entwicklung über die Erprobung bis hin zur Bewertung - direkt eingebunden. Mit diesem Vorgehen sollte sicher gestellt werden, dass nichts über die Köpfe der Betroffenen hinweg entschieden wird. So konnten unter den gegebenen Rahmenbedingungen maßgeschneiderte Arbeitszeitlö-sungen entwickelt werden, zu denen betroffene Pflegekräfte entscheidende Impulse gaben. Weitere Ergebnisse, insbesondere zur Neugestaltung des Nachtdienstes, enthält der Teil 2, der in der Nr. 4/2000 der "Amtlichen Mitteilungen" veröffentlicht wird.

Ansprechpartnerin: Dr. Beate Beermonn Gruppe G 3 "Soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen" Tel.: (02 31) 90 71-2 38

Hinweis aus der BAuA-Redaktion: Nachdruck  - auch auszugsweise - erwünscht, aber nur mit Quellenangabe gestattet. ISSN 0177-3062