BArbBl. 10/1999 S. 46

 

Neuordnung des Arbeitsschutzrechts

BMA
(BArbBl. 10/1999 S. 46)


Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz sind in einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft nicht nur ein Gebot der sozialen Verantwortung, sondern auch der wirtschaftlichen Vernunft. Gesunde, motivierte, leistungsfähige und qualifizierte Mitarbeiter sind das wichtigste Gut für ein Unternehmen, das im globalen Wettbewerb bestehen will.

Der Arbeitsschutz muss sich den neuen Herausforderungen stellen, die wesentlich bedingt sind durch den globalen Wettbewerb, die demografische Entwicklung hin zu einer älter werdenden Erwerbsbevölkerung, das zusammenwachsende Europa, die rasante technologische Entwicklung und das Aufkommen vielfältiger neuer flexibler Arbeitsformen.

Ein Weg, der mit dem Arbeitsschutzgesetz von 1996 und den hierzu erlassenen Rechtsverordnungen bereits eingeschlagen wurde, ist die Ausgestaltung des staatlichen Arbeitsschutzrechts durch einheitliche flexible Grundvorschriften. Dies gibt insbesondere dem Arbeitgeber Spielräume, seiner spezifischen betrieblichen Situation angepasste Maßnahmen zu treffen. Es verlangt von ihm aber auch ein hohes Maß an Eigenverantwortung. Ebenso hat die Unfallversicherung mit der Neuordnung ihres Vorschriften und Regelwerks mit vergleichbaren Zielstellungen begonnen.

Jetzt kommt es darauf an, staatliches Recht und Satzungsrecht der Unfallversicherung besser aufeinander abzustimmen, die Anwenderfreundlichkeit für die Betriebe zu verbessern, das Zusammenwirken der Aufsichtsdienste in den Betrieben besser zu koordinieren und somit die Vorteile des deutschen dualen Systems, die in einer besonderen Praxis- und Betriebsnähe der Arbeitsschutzinstitutionen bestehen, besser zur Geltung zu bringen.

Um dieses Ziel zu erreichen, hat sich ein beim BMA gebildeter Koordinierungskreis aus Vertretern der Länder, der Spitzenverbände der gesetzlichen Unfallversicherung, der Sozialpartner, der Industrie und des Handwerks auf die nachfolgenden Thesen zur Neuordnung des Arbeitsschutzrechts verständigt.

 

Thesen zur Neuordnung des Arbeitsschutzrechts

Die Stärkung der Wirtschaftskraft durch nachhaltiges Wachstum und Innovation und die Erhaltung und Schaffung zukunftsfähiger Arbeitsplätze sowie die Modernisierung des Staates, in dem die Verwaltung bürgenäher gestaltet und überflüssige Bürokratie abgebaut wird, sind wesentliche Ziele des neuen Regierungsprogramms. Die weitere Gestaltung des Arbeitsschutzrechts ist auch an diesen Zielen zu messen.

Arbeitsschutzvorschriften müssen Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit sowie Dritter gewährleisten. Sie können und sollen aber so ausgestaltet sein, dass sie auch einen Beitrag zur Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Betriebe und damit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze leisten. Der Arbeitsschutz muss als Teil einer umfassenden Modernisierungsstrategie verstanden werden, die eine menschengerechte Gestaltung der Arbeitsbedingungen zum Ziel hat und die Motivation und die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten fördert.

Bei der Neuordnung des Arbeitsschutzrechts geht es um mehr Übersichtlichkeit, bessere Verständlichkeit, Verzicht auf Mehrfachregelungen gleicher Sachverhalte und Abbau überholter oder in sich nicht stimmiger Regelungen bei Gewährleistung eines hohen Niveaus von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit.

Mit dem Arbeitsschutzgesetz ist der Prozess der Neuordnung des Arbeitsschutzrechts bereits begonnen worden. Das neue Konzept "einheitliche und flexible Grundvorschriften" schafft Raum für eine der konkreten Gefährdungssituation angepasste und betriebsnahe Gestaltung der erforderlichen Arbeitsschutzmaßnahmen und Möglichkeiten für Eigeninitiativen. Die weitere Gestaltung des Arbeitsschutzrechts muss auch die Ablösung der Arbeitsschutzvorschriften der Gewerbeordnung beinhalten und auch angrenzende Rechtsbereiche wie z.,B. Sozialvorschriften im Straßenverkehr oder das Sprengstoffrecht in die Betrachtung einbeziehen.

Wegen der engen Verbindung mit dem staatlichen Arbeitsschutzrecht muss auch das auf der Grundlage des SGB VII entwickelte Vorschriften-und Regelwerk der Unfallversicherungsträger in die Neuordnung des Arbeitsschutzrechts einbezogen werden.

Das Vorschriften- und Regelwerk im Arbeitsschutz muss handhabbar und effektiv sein. Dabei sind die Belange der Klein- und Mittelbetriebe besonders zu berücksichtigen. Gleichzeitig müssen die Wirksamkeit des staatlichen Handelns und des Handelns der Unfallversicherungsträger sowie die Zusammenarbeit von staatlichen Arbeitsschutzbehörden und Unfallversicherungsträgern weiter verbessert werden.

Dieser Prozess der Neuordnung und Fortentwicklung des deutschen Arbeitsschutzrechts muss unter Berücksichtigung entsprechender Beschlüsse der Bundesländer und der Selbstverwaltungen der Unfallversicherungsträger mit einer kritischen Bestandsaufnahme des Vorschriften- und Regelwerks beginnen und unter Beteiligung der Länder, der Unfallversicherungsträger und der Sozialpartner konsequent fortgesetzt werden.

Zur Durchsetzung des Arbeitsschutzrechts in der Praxis müssen den Aufsichtsdiensten von Staat und Unfallversicherungsträgern die notwendigen Kompetenzen eingeräumt werden.

 

Grundsätze zur Neuordnung des Arbeitsschutzrechts

1. EG-Richtlinien zu Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit werden regelmäßig durch staatliches Recht umgesetzt.

EG-Richtlinien zu Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit werden flächendeckend und effizient durch staatliches Recht in nationales Recht umgesetzt. Eine andere Umsetzung, beispielsweise durch Unfallverhütungsvorschriften, würde eine Wiederholung der grundlegenden Pflichten außerhalb des Geltungsbereichs des Satzungsrechts erforderlich machen und somit zu einer unnötigen Vermehrung von Vorschriften führen.

 

2. Neue Vorschriften werden nur bei Regelungsdefiziten erlassen

Das neue Arbeitsschutzgesetz und die darauf gestützten Verordnungen enthalten flexible und weitgefasste Grundbestimmungen und lassen damit - ebenso wie das SGB VII - Raum für betriebsnahe Gestaltungsmöglichkeiten von Arbeitsschutzmaßnahmen. Dieser Handlungsspielraum für die Betriebe sollte durch Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften nur dann eingeengt werden, wenn dies zur Vermeidung von mit der Arbeit verbundenen Unfall- und Gesundheitsgefahren erforderlich ist. Aus diesem Grund ist der Bedarf für neue oder konkretisierende Vorschriften unter Berücksichtigung des geltenden Rechts insbesondere für das Verhältnis zwischen staatlichem Recht und Unfallverhütungsrecht begründet darzulegen und, soweit Klärungsbedarf besteht, mit den Beteiligten zu erörtern.

 

3. Im Vorschriften- und Regelwerk von Staat und Unfallversicherungsträgern werden Doppelregelungen zu gleichen Sachverhalten vermieden.

Das Vorschriften- und Regelwerk von Staat und Unfallversicherungsträgem umfasst

In diesem Vorschriften- und Regelwerk sind Mehrfachregelungen zu gleichen Sachverhalten enthalten. Eine Konzentration und Straffung würde zu einer erheblichen Reduzierung der Vorschriften und Regelzahl führen, ohne dabei das Niveau von Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit zu senken. Hierfür ist ein abgestimmtes Zusammenwirken aller Vorschriften- und Regelsetzer erforderlich. Aufgrund der allgemeinen Normenhierarchie ist anerkannt, dass staatliche Rechtsvorschriften dem Satzungsrecht vorgehen.

 

4. Konkretisierende Vorschriften und Regeln müssen eindeutig erkennen lassen, welche Rechtsvorschriften in welcher Form konkretisiert werden.

Um die Anwenderfreundlichkeit von konkretisierenden Rechtsvorschriften und Regeln zu verbessern, müssen diese so gestaltet werden, dass klar erkennbar wird, weiche allgemeine Rechtsvorschrift konkretisiert wird.

 

5. Der Grad der Konkretisierung muss einen ausreichenden Spielraum für Innovation und Flexibilität offen lassen.

Spielraum für Innovation und Flexibilität kann dadurch geschaffen werden, dass Vorschriften mit niedrigem Konkretisierungsgrad durch Regeln erläutert werden, die beispielhaft dem Stand der Technik und arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechende praxisbezogene Lösungen zur Anwendung der Vorschrift enthalten. Ein anderer Weg besteht in der Aufnahme einer Abweichungsklausel in Vorschriften, die alternative Maßnahmen zulässt, wenn die gleiche Sicherheit auf andere Weise gewährleistet ist.